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Stärkende Begegnungen 

Wenn Gerechtigkeit und Vertrauen zusammenkommen, dann zieht Segen in menschliche Beziehungen ein.

Er (Melchisedek) segnete Abram und sagte: Gesegnet sei Abram vom Höchsten Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde, und gepriesen sei der Höchste Gott, der deine Feinde an dich ausgeliefert hat.
Gen 14,19-20a

Mir tat das Herz weh bei dem Anblick, wie die dreißigjährige Hannah in einer neuen, ungewohnten Bekleidung über das fast drei Meter hohe Ortsschild ihres Dorfes klettern musste. Den Bruder als Steighilfe benützend, zog sie sich mühsam hoch, stieg mit großer Kraftanstrengung über das Schild, wandte sich oben noch einmal um, blickte auf die unten Abschied nehmende Familie und ließ sich dann rückwärts in die Arme einer neuen Familie fallen. Ich übertreibe, aber in diesem Augenblick fiel mir das Bild von der Kreuzigung Jesu mit den weinenden Frauen ein. Aber – so wurde ich belehrt – dieses außergewöhnliche Zeichen gehört zum Aufbruch in ein besonderes Abenteuer.
Doch der Reihe nach. Für Hannah erschwerte der angeborene Gehörschaden Kommunikation und Beziehungen. Die Gebärdensprache, die sie mit Hilfe der Mutter erlernte (diese wurde durch ihre Tochter zur Spezialistin auf diesem Gebiet) und die Implantierung einer Hörhilfe stärkten sie. Nach dem Schulabschluss erlernte sie den Beruf einer Feintäschnerin, ein anstrengendes Handwerk, das ihre Gelenke belastete, und so machte sie zusätzlich eine Ausbildung zur Konditorin. Beides schloss sie mit der Gesellenprüfung ab. Die bewegte Lebensgeschichte ihrer Eltern und die Suche nach Tiefe im Leben und nach Gemeinschaft brachten sie auf den Gedanken, noch einmal aufzubrechen und etwas Neues zu wagen. Ihren beruflichen Fähigkeiten entsprechend, bot sich der Weg an, „auf die Walz“ zu gehen. Dank der Unterstützung der Mutter wurde aus der Idee Wirklichkeit. Dass ich dann in den zwei letzten Tagen vor Hannahs Start zur Walz dabei sein durfte, öffnete mir die Augen für eine fremde Welt.
Es begann am Vorabend mit einer großen Party, zu der Hannah eingeladen hatte. Die aus unterschiedlichsten Handwerksberufen versammelten Gesellinnen und Gesellen brachten den Gästen Sinn, Werte, Regeln und Bräuche ihrer wandernden Gemeinschaft nahe. Ursprünglich als Weg zur Erlangung des Meisterstatus vorgeschrieben, dienen heute die drei Wanderjahre der beruflichen Fortbildung und Persönlichkeitsentwicklung. Dazu gehört ein alternativer, auf alle Konsumgüter verzichtender Lebensstil, der ganz auf Gastfreundschaft und Annahme angewiesen ist. Dazu gehört auch eine besondere Kleidung, die in der Öffentlichkeit immer zu tragen ist. Hannah ist in ihrem schwarz-weiß karierten Jackett samt weißer Weste als „Hannah, fremde Konditorin und Feintäschnerin“ erkennbar. Die Wanderschaft dauert drei Jahre, in der sie die Bannmeile, fünfzig Kilometer rund um ihr Heimatdorf, nicht betreten darf.
Am Tag des Aufbruchs holte sie vom Bürgermeister den Stempel ihrer Gemeinde als Ausweis für ihren Status als Wandergesellin ab. Und dann kam am Ortsschild der schmerzhafte Abschied. Mit dem biblischen Vers wünschte ich Hannah, dass sie auf ihrem mutigen Weg des Vertrauens vielen guten und gerechten Menschen begegnen möge. Dann wird das Zusammentreffen für beide zum Segen werden.