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Geträumt. Gewagt. Gelebt.

Wo ist für dich der Ort, wo du zum ersten Mal dem Himmel nahegekommen bist?

Abram hatte einen sehr ansehnlichen Besitz an Vieh, Silber und Gold. Er ging von einem Lagerplatz zum anderen weiter, vom Negeb bis nach Bet-El, bis zu der Stätte, an der anfangs sein Zelt gestanden hatte, zwischen Bet-El und Ai, der Stätte, an der er früher den Altar errichtet hatte. Dort rief Abram den Namen des HERRN an.
Gen 13,2-4

Ich fahre am „Rehwäldle“ vorbei, spüre den Geschmack von Steinpilzen am Gaumen. In diesem Wäldchen gingen wir mit unseren Eltern spazieren, dort sahen wir Rehe, und so kam es zu seinem Namen. Wir sammelten Pilze, die Mama dann zubereitete. Auch wenn manchmal jeder nur einen Löffel voll bekam: Es war köstlich.
Heute komme ich von weit her, nach Stunden auf der Autobahn nähere ich mich dem Ort, wo ich aufgewachsen bin. Die Straße erinnert mich immer noch an den Schrecken, als hier meine Klassenkameradin Elke überfahren wurde. Ich denke an das blonde Mädchen. „Geht nur bei Grün über den Zebrastreifen!“, warnten fortan die Eltern.
Da ist die Grundschule mit dem Pausenhof. Wie aufgeregt war ich vor 55 Jahren am ersten Schultag, heute noch rieche ich das Leder der neuen Schultasche, die ich stolz auf dem Rücken trug. Beim Gymnasium kommen mir andere Erinnerungen. Hier machte es Spaß, auszuprobieren, welche Grenzen man überschreiten konnte.
Dann die Kirche. Der Platz davor ist leer, obwohl heute Sonntag ist. Damals hatte ich alle meine Freunde hier. In den Jugendgruppen haben wir viel unternommen, wir kamen hinaus „in die große Welt“. Jeden Sonntag trafen wir uns im Gottesdienst mit den Freundinnen. Auf dem Heimweg machten wir Umwege voller Abenteuer. Sogar Sabine aus der Nachbarschaft, die wir mitschleppten, weil sie keine Freunde hatte, war manchmal glücklich.
Als Erstes will ich heute zum Friedhof, wo meine Eltern ruhen. Auf dem Weg dorthin bleibe ich bei einem Grab stehen. Auf dem Stein ist eingraviert: „Geträumt. Gewagt. Gelebt.“ Besucher haben nach jüdischem Brauch zum Gedenken Steine hingelegt. Bei den Eltern angekommen, entferne ich zuerst das Laub von der Erde, damit die Blumen sprießen können. Halblaut lese ich die Namen meiner Eltern, Geburtsdaten, Sterbetage. Dankbarkeit und Schaudern überkommen mich. Wie schrecklich war das Abschiednehmen. Wie viel Liebe haben sie mir geschenkt. Sie haben mich zum Träumen gebracht. Von ihnen bekam ich die Kraft zum Wagnis und zum Leben. „Geträumt, gewagt, gelebt“, das gilt auch für sie. Ich schaue zu den Eltern auf und bitte sie um Geleit, vor allem für meine behinderte Schwester, die ich anschließend besuchen werde. Sie lebt in einer betreuten Wohngemeinschaft und wünscht sich sehnlichst die Nähe der Geschwister. Über das „Himmelstelefon“ redet sie mit den Eltern. Als ich bei ihr bin, schauen wir Fotos von früher an und machen viele Scherze. Dann kommt „purer Ernst“, wie sie es ausdrückt: der Abschied.

In den Jahrzehnten, seit ich von daheim fort bin, habe ich viel erlebt und viele Aufgaben bekommen. Reich beschenkt wie Abram in der Fremde. Aber immer noch zieht es mich genauso wie ihn dorthin zurück, wo meine Schwester lebt, und zum Grab der Eltern. Sie haben mich gelehrt, den Namen des Herrn anzurufen. Sie haben meine Augen für die Menschen und ihre Nöte geöffnet.

Dein Altar. Wo ist für dich der Ort, wo du zum ersten Mal dem Himmel nahe gekommen bist?