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Eintauchen

Meine tägliche Meditation: zwanzig Minuten auf unserem Schulhof.

Da stieg der HERR herab, um sich Stadt und Turm anzusehen, die die Menschenkinder bauten.
Gen 11,5

Es ist 12.40 Uhr. Die Schulglocke läutet die große Pause ein. In Windeseile leeren sich die Klassenräume und 700 Schüler tummeln sich auf dem Schulhof. Hungrige Kinder stürmen über den Hof zur Mensa, um einen der ersten Plätze in der Warteschlange zu ergattern. Andere erobern die beiden neuen Tischtennistische. Viele beginnen in kleinen Grüppchen, den „roten Platz“ gegen den Uhrzeigersinn zu umkreisen. Bei schönen Wetter flenzen sich vor allem Teenager mitten auf dem Platz, während die Kleineren sie bei ihren Fangenspielen als lebendige Hindernisse überspringen.
Diese zwanzigminütige Pause mitten im Schulalltag zählt für mich zur wertvollsten Zeit des Tages. Ich unterbreche meine Arbeit dafür, verlasse mein Büro und schlendere zwischen den Kindern und Jugendlichen umher. Oft habe ich kleine Absprachen zu tätigen und kann sie hier auf kurzem Wege abklären. Oder sie können mit ihren Fragen und Anliegen direkt auf mich zukommen. Gleichzeitig nütze ich die Zeit für mein Namenstraining. Aber am wertvollsten ist mir diese Zeit, wenn ich einfach nur mitten im Getümmel sein und die Schar der Kinder und Jugendlichen beobachten kann. Hier offenbart sich so vieles, was die Schüler beschäftigt. Manche prüfen sich gegenseitig Vokabeln ab, andere beschweren sich lautstark und hitzig über ungerechte Noten oder Anmerkungen der Lehrer. Jan und Lea scheinen nicht mehr ein Paar zu sein. Niklas hat seit heute eine Brille. Die ausländischen Schüler aus der Integrierten Sekundarschule am Canisius Kolleg stehen nicht mehr nur in der einen Ecke des Platzes. Sie haben begonnen, sich mehr unter die Gymnasiasten zu mischen. Ein kleines Zeichen von „Beheimatung“. Lola hat ihren Kleidungsstil geändert. Sie versteckt nicht mehr ihren Körper. Die hart erkämpfte Therapie scheint ihr zu helfen. Milo und seine Jungs aus der Neunten scheinen endlich das Platzhirschgehabe gegenüber den Fünftklässlern aufgegeben zu haben. Heute spielen sie sogar zusammen Fußball auf dasselbe Tor! Die vielen Gespräche zeigen Früchte.
Der Schulhof ist mein Seismograph. Hier höre und sehe ich vieles. Spüre und erfahre, wie es dem einzelnen geht. So kann ich das, was mir von Eltern, Lehrerinnen oder Jugendleitern mitgeteilt wird, besser abwägen und einschätzen. Welche Stimmung baut sich unter den Kindern und Jugendlichen auf? Von meinem Büro aus bliebe mir das alles verborgen.

Der Herr steigt herab, um zu sehen, was die Menschen da bauen. Freilich ist dieser Abstieg eine stilistische Spitze des Autors gegen den Hochmut der Menschen, die von der Größe ihres Turmes ganz geblendet sind. Gott muss herabsteigen, um das größte von Menschen errichte Bauwerk überhaupt sehen zu können. Man kann auch neben der Ironie eine Fürsorge des Herrn lesen, der nicht von der Ferne aus den Menschen beurteilen will. Er taucht ein in deren Welt. Hört, sieht und nimmt wahr. Es sind keine guten Schwingungen. Hier dominiert der Hochmut. Sein Reich kann sich unter diesem Vorzeichen nicht ausbreiten.

„Wenn Du der König der Juden bist, dann hilf Dir selbst!“ rufen die Soldaten Jesus am Kreuz zu. Wir hören diese Worte am Christkönigsfest am kommenden Sonntag. Hier prallt der menschliche Hochmut Gott selbst entgegen. Er nimmt ihn in seiner unbegrenzten Fürsorge an und steigt in die dunkelsten Winkel des Menschen ab, um deutlich zu machen: nicht der Aufstieg, sondern der Abstieg führt zu Gott. Denn der Herr bleibt nicht im Himmel wartend. Sein Reich ist schon mitten unter uns, mitten auf dem Berliner Schulhof.