Zum Inhalt springen

Eine Zumutung

Unangenehme Wahrheiten sind eine Zumutung. Wer mir sie zusagt, nimmt mich ernst und ermöglicht mir, eine Wahl zu treffen.

Er sprach zu Abram: Du sollst wissen: Deine Nachkommen werden als Fremde in einem Land wohnen, das ihnen nicht gehört. Sie werden dort als Sklaven dienen und man wird sie vierhundert Jahre lang unterdrücken.
Gen 15,13

D’Artagnan und die drei Musketiere waren seine Kindheitshelden. Das Musketierkostüm, das seine Mutter ihm genäht hatte, trug er nicht nur bei Faschingsfesten besonders gern. Zusammen mit seinem Bruder und Freunden tauchte er in längst vergangene Welten und focht für Ehre und Gerechtigkeit. Mit acht Jahren hielt er zum ersten Mal ein echtes Florett in der Hand. Die mühsamen Haltungsübungen zu Beginn konnten seine Begeisterung nicht bremsen. Selbst nach dem Unterricht trainierte er mit einem Freund weiter. Zwei Jahre später stand er bei seinem ersten Turnier ganz oben auf dem Podest. Kurz darauf folgte der tiefe Fall. Kaum in die ältere Stufe aufgestiegen, verlor er ein Gefecht nach dem anderen. Die Nerven brannten ihm durch, die Maske segelte durch die Sporthalle und Tränen flossen. Verlieren musste erlernt werden.
Das Training ging weiter, wurde intensiver und Erfolge stellten sich wieder ein. Der erneute Höhenflug wurde durch Wachstumsschübe durchkreuzt. Die verhältnismäßig langen Beine und Arme mussten erst koordiniert werden. Kaum wieder in Balance wechselten in kurzer Zeit seine Trainer bis schließlich keiner mehr im Verein war. Auch sein Freund und einzige Trainingskollege kam nur mehr unregelmäßig. Ein Wechsel zu einem größeren Club stand an. Dies fühlte sich anfangs wie Verrat an. Es war kein schöner Abschied.
Der neue Verein war riesig. Hier trainierten auch einige Leistungssportler fünfmal die Woche. Er kannte sie von Turnieren, ebenso ihre Trainer. Zu einem bestimmten wollte er unbedingt. Ihn hatte er die Jahre zuvor bei Wettkämpfen beobachtet. Sympathisch war er ihm nicht, aber er schien sehr gut zu sein. Nach mehrmaligen Versuchen bekam er endlich seine erste Trainingseinheit. Knapp fünfzehn Minuten ging es hin und her. Das ganze Fechtalphabet wurde rauf und runter abgeprüft. Dann folgte die Nachbesprechung. Ohne Umschweife fiel der Trainer mit der Tür ins Haus: „Wir müssen nochmals von Anfang an starten. Viele Fehlbewegungen haben sich über die Jahre eingeschlichen. Talent hast Du, aber es wird ein langer Weg. Die ersten Monate wirst du noch nach deinem Stil fechten, da wird sich wenig verändern. Dann, wenn mein Training bei dir zu greifen beginnt, wird gar nichts mehr funktionieren. Es wird eine lange Durststrecke sein, die notwendig für die Veränderung ist.“ Damit war alles gesagt. Eine unangenehme Wahrheit, die der Trainer seinem Schüler zumutete.

Abram ist schon lange auf dem Weg. Einige Hürden hat er schon überwunden. Und nun erhält er diese katastrophale Prophezeiung. Was mutet Gott seinem Schüler hier zu? Warum sollte Abram weiterziehen? Wäre es nicht vernünftiger abzubrechen und umzukehren? Immerhin, er wird Nachkommen haben. Aber ist es überhaupt verantwortbar, Nachkommen bei einer solchen Perspektive in die Welt zu setzen? Was will Gott mit dieser unangenehmen Wahrheit bewirken? Abram wird es selber gar nicht erleben. Auch verhindern kann er es nicht. Trotzdem müsste er weitergehen, damit sie eintritt.

Unangenehme Wahrheiten sind eine Zumutung. Wer mir sie zusagt, nimmt mich ernst und ermöglicht mir, eine Wahl zu treffen.
Er vertraute seinem neuen Trainer. Das Podest erklomm er nicht mehr, aber das Lehrgeld war ihm Gold wert.