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Ein Neubeginn

Wer hat einen Blick dafür? Wer erhebt meine Augen für neue Möglichkeiten?

Im sechshundertersten Jahr Noachs, am ersten Tag des ersten Monats, hatte sich das Wasser von der Erde verlaufen. Da entfernte Noach das Dach der Arche, blickte hinaus und siehe: Der Erdboden war trocken.
Gen 8,13

Der Plüschhase auf dem Bett, das Schreibheft auf dem Tisch, alles im Kinderzimmer erzählte noch vom Leben der beiden Mädchen, die in unserer Gemeinschaft gewohnt hatten. Jeden Morgen in der Kapelle schauten wir auf ein Bild, das Alis gemalt hatte am Tag, bevor sie weggeholt wurden – eine Liebeserklärung, viele bunte Herzchen. Wir beteten für die beiden, dass sie zu uns zurückkommen und in die Schule gehen dürften. Ihr Zuhause war chaotisch, viele Leute auf engstem Raum, Alkohol, Missbrauch, alles schmutzig und verwahrlost. Die schwierige Familie ließ sie nicht frei und wollte sie gegen Geld tauschen. Und auch die beiden waren zerrissen zwischen dem Wunsch nach einem Leben in Geborgenheit und den Banden der Familie. Dann steckten sich unsere zwei Volontärinnen mit dem Corona-Virus an. Sie mussten in Quarantäne und besetzten damit auch das Zimmer der Kinder. Die nächsten Wochen konnten wir die beiden also nicht aufnehmen. Es war eine dunkle Zeit. Wir gingen nicht mehr zu ihrer Familie, besuchten die Kinder nicht mehr, es hatte keinen Sinn. Wir waren von Sorgen überflutet. Die Herbstferien wurden wegen der Pandemie verlängert. So verpassen die Mädchen wenigestens nicht so viel in der Schule, eine kleine Beruhigung.

Ein Tag nach dem anderen verstrich. Wo würden sie Weihnachten feiern? Emilia, unsere Volontärin, bedrängte mich mehr und mehr. Sollen wir es nicht doch wieder versuchen? Also brachen wir auf. Emilia ging ins Haus der Familie, ich wartete startbereit im Auto. Nur gegen Geld, war die Antwort der Mutter. Sie drückte Emilia die Stromrechnung in die Hand. Schnell lief Paula aus dem Haus und setzte sich ins Auto, damit kein Zurück mehr möglich war. Alis folgte, in einem schmutzigen dünnen Kleidchen. Und plötzlich saß noch jemand auf der Rückbank, ihr Bruder Ovidiu wollte auch mit. Die Mutter nickte. Erleichtert fuhren wir los. Wie groß war die Freude, als die drei Kinder in den Hof kamen! Jubelrufe, Umarmungen, sie liefen in alle Räume, in ihr Zimmer, der Plüschhase wurde fest gedrückt. Als Erstes mussten sie warm duschen und saubere Kleider anziehen. Dann halfen sie beim Gemüseschneiden. Miteinander ließen wir uns gutes Abendessen schmecken. Würde es wieder wie früher werden? Wie lange würden sie dieses Mal bleiben können?

Lange habe ich nur die Flut gesehen. Die Hoffnung, die uns die Kinder vermittelt hatten, war untergegangen, aber nicht für die zwanzigjährige Volontärin Emilia. Sie hatte die Zukunft der Kinder nicht aus dem Blick verloren und für uns alle schließlich ein Tor geöffnet. Jetzt schaute ich noch dankbarer als früher auf die Tischgemeinschaft. Morgen schon werden die Kinder wieder in die Schule gehen. Die Schultaschen haben sie bereits gepackt. Wie Noach konnten wir wieder festen Boden unter unseren Füßen spüren und weitergehen mit den Kindern.

Es gibt einen Neubeginn. Wer hat einen Blick dafür? Wer erhebt meine Augen für neue Möglichkeiten?

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