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Bei einer negativen Entwicklung

Wie lange muss ich zuschauen, bis ein Neuanfang möglich ist? Bis ich eingreifen kann?

Erst die vierte Generation wird hierher zurückkehren; denn noch hat die Schuld der Amoriter nicht ihr volles Maß erreicht.
Gen 15,16

Mihais Augen waren noch ganz zugeschwollen, als er gegen zehn Uhr morgens aus seinem Zimmer kroch. Er hatte wieder einmal verschlafen und ging missmutig zur Arbeit. An diesem Tag würde er zu nicht viel imstande sein, bei der ersten Gelegenheit würde er sich irgendwo verstecken und schlafen. Es war nicht das erste Mal; Mihai hatte immer mehr Probleme mit Alkohol. Wir hatten vereinbart, dass er abends nicht mehr als ein Bier trinken solle. Ja, es sei nur ein Bier gewesen, bestätigte er am Morgen – und zeigte mir als Beweis eine Zweieinhalbliterflasche. An den nächsten Tagen ging es so weiter, und am Weihnachtstag war er dann schon zu Mittag so betrunken, dass nichts mehr mit ihm anzufangen war. Es kam zum Konflikt. Mihai weigerte sich, einen Schritt für seine Heilung zu tun. Nach einigen Tagen beschloss er zu gehen, dorthin, wo er trinken könne, so viel er wolle. Er fand einen Unterschlupf und Arbeit, wieder als Tellerwäscher, ohne Vertrag. Je mehr ich versuchte, ihn zu retten, desto mehr zog er sich zurück. Wenn ich ihn anrief, antwortete er kaum. Die Einladung, am Sonntag zum Mittagessen zu kommen, schlug er aus. Keine Zeit. Andere jedoch rief er an, meist, wenn er betrunken war.
Vor einigen Wochen sagte mir Florin, es gehe rapide abwärts mit Mihai. Er sei so dünn geworden, sein Gesicht so eingefallen, dass die Brille keinen Halt mehr an den Ohren finde. Außerdem rede er so durcheinander, wie im Nirwana, man könne keinen normalen Satz mit ihm austauschen. Ich müsse ihn zurückholen. Aber wie? Mihai wollte nichts von mir wissen. Ich musste mich beherrschen, ihm nicht wieder nachzulaufen, denn das verstärkte seinen Protest nur noch. Es war schwer, das auszuhalten. Vor einigen Tagen bekam ich eine Nachricht von Mihai. Er wolle kommen und mich sehen. – Und jetzt? Sollte ich ihm schreiben: Aber bitte nur nüchtern! Oder: Willst du wieder zu uns kommen und ein gesundes Leben versuchen? Schließlich fragte ich bloß, wie es ihm gehe und dass ich mich freuen würde, ihn wiederzusehen. Bis jetzt ist es noch nicht dazu gekommen. Wann gibt Mihai seinen Widerstand auf?

Die Alkoholkrankheit mag nicht die Schuld dieses jungen Menschen sein, der mir damals am Nordbahnhof in Bukarest ans Herz gewachsen ist. Auch seine Mutter war Alkoholikerin, und der Vater ist daran gestorben, auf der Straße. Ich frage mich, wann diese Erblast ihr volles Maß erreicht hat. Beim Volk der Amoriter, die Israel den Weg zurück in ihr Land versperrten, dauerte es vier Generationen, bis der Widerstand zusammenbrach. Drei Generationen verbrachten die Israeliten in Ägypten, zunächst in der Hungersnot als Wirtschaftsflüchtlinge, später versklavt. Gott schaute zu, wie das Elend zunahm. Erst bei der vierten Generation war die Grenze der göttlichen Langmut erreicht; Bruch und Aufbruch konnten geschehen.
Bei Mihai sind es bald zwei mal vier Jahre, dass es mit ihm abwärts geht. Wann ist es zu Ende? Wann ist ein Neuanfang in unserer Freundschaft möglich? So dass er meine Hoffnung erfüllt oder ich ihm helfen kann?