Zum Inhalt springen

Arme Mutter. Reiches Kind.

Wo bist du der Unfreiheit entkommen und hast viel mitgenommen?

Aber auch über das Volk, dem sie als Sklaven dienen, werde ich Gericht halten und nachher werden sie mit reicher Habe ausziehen.
Gen 15,14

Mit einem zerknüllten Papier kam Mihaela zurück. Die Mutter hätte ihr Einverständnis für den Schulausflug unterschreiben sollen, doch sie erlaubte nicht, dass die Tochter mitfuhr. Begründung gab es keine. Mihaela hatte alles versucht, die Mutter zu überreden. Schließlich hatte sie aufgegeben und war heulend hinausgestürmt. Die Mutter hatte ihr das Papier nachgeworfen und die Haustüre zugeknallt. Doch das Mädchen tröstete sich bald: Noch drei Jahre, dann würde sie keine Unterschrift mehr brauchen.
Mihaela hat den ersten Schritt zur Unabhängigkeit schon gemacht, sie wohnt seit zwei Jahren nicht mehr zuhause. Dort hatte sie es nicht mehr ausgehalten. Die Mutter ließ sie oft nicht in die Schule gehen, weil sie auf die kleinen Geschwister aufpassen sollte. Ständig kamen andere Männer ins Haus, jedes Kind hat einen anderen Vater. Als einer der Männer Mihaelas ältere Schwester missbrauchte, deckte ihn die Mutter und beschuldigte stattdessen das Kind. Die Schwester lief weg und landete nach langen Irrwegen bei der staatlichen Fürsorge, schwanger. Mihaela hatte Angst, das nächste Opfer des Stiefvaters zu werden. Sie wollte nicht wie ihre Schwester enden. So suchte sie Unterschlupf bei Freundinnen, bis sie endlich zu uns kam. Sie strengte sich unglaublich an, um die Aufnahme ins Gymnasium zu schaffen. Jetzt lebt sie im Schülerwohnheim in der Stadt, weit weg von der Mutter. Später möchte sie Pädagogik studieren. Mihaela gewinnt leicht Freundinnen, doch ihre Freundschaften halten oft nicht lange. Wenn etwas nicht nach ihrem Kopf geht, ist sie beleidigt. Dann dauert es, bis sie wieder mit anderen reden kann. Doch sie will nicht wie ihre Mutter werden, mit den vielen Männern. In Wahrheit sei die Mutter ganz allein, behauptet das Mädchen. Und eigentlich müsse man Mitleid mit ihr haben. Ein hartes Urteil.
Jetzt aber lachte Mihaela wieder. Statt auf den Schulausflug zu gehen, komme sie eben in die Musikschule und werde mit den Burschen Akkordeon spielen.

Lange wurde Mihaela von ihrer Mutter wie eine Sklavin gehalten. Ähnlich wie damals das Volk Israel in Ägypten. Aber nach vielen Plagen mussten die Unterdrücker das Volk in die Freiheit entlassen. Die Ägypter ließen das Volk „mit reicher Habe ausziehen“. Sie kauften sich gleichsam von den Plagen los, vom Unglück, das die Unterdrückten über sie gebracht hatten. Die Herrscher wurden arm und gingen unter, die Sklaven wurden frei und reich.
Unser Schützling hat sich die Freiheit erkämpft. Sie hat zwar die gewünschte Unterschrift von der Mutter nicht bekommen, aber dafür etwas viel Kostbareres: Sie hat ihre Mutter besser kennengelernt, ja sogar verstehen gelernt. Sie ist nicht mehr böse auf ihre Mutter, sie hat Sorge um sie. Oft betet sie für sie. Für ihr Alter hat sie eine unglaubliche Tiefe gewonnen.

So ist das Gericht. Die Unterdrücker zerstören letztlich sich selbst. Die Befreiten ziehen reich davon.

Wo bist du der Unfreiheit entkommen und hast viel mitgenommen?