Welches Zeichen schützt dich davor, böse zu sein? Welches Zeichen weckt in dir Kräfte?
Darauf machte der HERR dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde.
Gen 4,15b
Das letzte Schuljahr sollte er fertig machen, um einen Abschluss zu haben. Querflöte sollte er lernen, weil er musikalisch hochbegabt ist. Eine Kindergruppe sollte er anleiten, mit ihm rhythmische Takte zu lernen. Und er wollte den Führerschein machen. Ich versprach, dass ich ihm die Hälfte zahlen würde, aber erst nach bestandener Prüfung. Viele begeisterte Gespräche hatten uns zu diesem Arbeitsprogramm für Marius geführt. Er begann alles – und brach es ab. Verstrickte sich in Ausreden und Lügen, am Schluss wurde es ein Schreikonzert, in das auch ich einstimmte. Marius verließ das Gebäude durch den Vorderausgang, um im Dorf weiterzubrüllen. Ich ging hinten hinaus und musste erst einmal tief durchatmen. Bei ihm konnte man sich auf nichts verlassen. Dabei diente alles, was wir versucht hatten, an erster Stelle ihm, seiner Zukunft, seinem Selbstbewusstsein. Ich kam wieder zurück, an meinen Arbeitsplatz. Und da schaute ich auf das Bild, das an der Pinnwand hängt und mir plötzlich die Augen öffnete. Eine zahnlose verwahrloste alte Frau – sicher jünger als ich – mit zwei kleinen Buben an der Hand. Das Foto war unscharf, eingerissen. Marius hatte es mir einmal geschenkt: Seine Großmutter hatte in ihrer Verzweiflung die Enkelkinder an unser Sozialzentrum übergeben, weil sie so wild waren und sie ihnen nicht mehr gewachsen war. Vater und Mutter lebten normalerweise auf der Straße mit den Kindern, doch jetzt waren sie im Gefängnis wegen Drogenvergehen. Auf dem Bild war auch der kleine Marius, wie ein Wurm sah er aus. So war er vor zwanzig Jahren zu uns gekommen.
Jetzt erleuchtete mich das Bild plötzlich. Dieser Marius, der mir so viel versprochen hatte, war aufgewachsen in Umständen, die es ihm schwer machen, eine Zusage zu halten, für Prüfungen zu lernen, einen disziplinierten Stundenplan zu erstellen und zu befolgen. Er ist anders gestrickt. Ich hatte ihn überfordert. Das Bild schaue ich jetzt öfters an, und die Liebe zu Marius erstarkt wieder. Wir finden Vereinbarungen, die kurzfristig und leicht zu erfüllen sind, und so kommen wir miteinander ein Stück weiter.
Die Lüge hat unsere Beziehung fast zerstört. Gerettet hat unsere Freundschaft ein Bild, das Bild der Kindheit, ein kleines Zeichen an der Wand. Es wirkt wie der Bogen, den Gott in die Wolken setzte, mit den Worten: „Er soll das Zeichen des Bundes werden zwischen mir und der Erde“ (Gen 9,13). Seither ist der Regenbogen ein mächtiges Zeichen für die Treue. Auf die Schuld des Kain ging Gott wie ein einfühlsamer Therapeut ein – warnend, fragend. Er führte Kain die Folgen der Tat vor Augen. Und dann der Höhepunkt: „Darauf machte der HERR dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde.“ Er gibt dem Schuldigen einen besonderen Schutz, den er in seiner Schwäche braucht. Schutz vor Rache, Schutz vor den Fesseln des Bösen. Noch stärker als Worte soll das Zeichen auf der Stirn dem Mörder eine neue Chance geben. Kain ist ein Gezeichneter. Er erinnert an die Barmherzigkeit Gottes.
Welches Zeichen schützt dich davor, böse zu sein? Welches Zeichen weckt in dir Kräfte?