Von zweifelnden Experten und geduldigen Profis
Der Mensch antwortete: Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben. So habe ich gegessen.
Gen 3,12
Lukas setzte den ersten Schritt. Die Slackline unter seinen Füssen vibrierte. Auf gut 30 Meter Höhe balancierte er am dünnen Seil von einem Kirchturm zum anderen. Dabei sog er die Zuschauer hinein in seinen inneren Kampf zwischen Zweifel und Zuversicht. Die Performance „Tanz der Unterscheidung“ in der Innsbrucker Jesuitenkirche (https://www.youtube.com/watch?v=_uZvfKXdn0U) hatte begonnen. In den Wochen der Vorbereitungen waren die tanzenden und balancierenden Jugendlichen ihren inneren Stimmen nachgegangen, um die Kunst geistlicher Unterscheidung zu erlernen. Welche bauen mich auf lange Sicht auf, welche ziehen mich nach unten?
Es war ein gewagtes Projekt. Für Aufbau der Slackline und Training der drei balancierenden Studenten wurde ein Profi gefunden. Christian war vom Projekt begeistert, schnell war ein Gehalt ausgehandelt und ein Pakt per Handschlag besiegelt worden. Mit viel Hingabe und Professionalität begann das Training.
Je näher aber die Aufführung rückte, umso lauter wurden die bedenklichen Stimmen im Umfeld ob der Waghalsigkeit des Projekts. Wäre es nicht vernünftiger, wenn nur der Profi statt der Jugendlichen über das Seil ginge? Wer würde bei einem Unfall haften? Was, wenn das Material versagt? Wenn beim Klettern auf dem Turm jemand ausrutscht? Wenn ein Gegenstand auf einen Zuseher fällt? Die Schlange der „Wenns“ entrollte sich ins Unendliche. Wer sollte für all das Verantwortung übernehmen? Ein schriftlicher Vertrag musste verfasst werden. Christian hatte daran kein Interesse und für mich war es völliges Neuland. Also wandte ich mich an Experten, die schon einmal einen Vertrag mit Christian aufgesetzt hatten. Das Resultat war ein scharf formulierter Text voller juristischer Formulierungen, der das Jugendzentrum möglichst aus der Verantwortung nahm. Mir kam das Dokument überzogen einseitig vor, aber es ging ja nicht um mich, sondern um das Jugendzentrum, dessen Leiter ich war. Sie waren die erfahrenen Fachleute. Im Ernstfall würde sich ein Handschlag in Luft auflösen. Lieber jetzt Klarheit schaffen, bevor es zu spät ist. Sei nicht naiv. Außerdem würde der Vertrag die Zweifler beruhigen. Mit diesen und ähnlichen Argumenten versuchte ich meine Gewissensbisse zu beruhigen.
Meine inneren Stimmen klangen wie Adams Worte. Wir beide wussten genau, dass wir etwas Falsches taten und wollten unsere Verantwortung an Experten abschieben. Was für mich die rechtliche Beratung war, war für Adam die Frau. Immerhin hatte Gott selbst ihm Eva zur Seite gestellt. Vielleicht wusste sie mehr als er? Könnte ja sein, dass das Verbot aufgehoben worden war.
Doch Gott reagierte erst gar nicht auf Adams Windungen. Ebenso wenig nahm Christian den Vertrag an. Trotzdem trainierte er die Jugendlichen weiter. Auf meine Erklärungsversuche ging er nicht ein. Er ließ mich eiskalt abrutschen, so dass ich in das Fangnetz meiner eigenen Ängste fiel. Erst hier erkannte ich meine Sehnsucht, es allen Zweiflern recht machen zu wollen, als Flucht aus der Verantwortung. Es brauchte noch einige Fehltritte bis zu einem Vertrag, der Handschlagqualität hatte. Dabei begleitete mich der Profi geduldig als wäre ich sein vierter Schüler in der Kunst des Balancierens.