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Unsere schöne Lehrerin

Wo begegnest du Schönheit, die dein Herz erfreut? Wann hat dich Schönheit weitergebracht?

Wenn dich die Ägypter sehen, werden sie sagen: Das ist seine Frau! Und sie werden mich töten, dich aber am Leben lassen.
Gen 12,12

Spannung lag in der Luft. Zwölf Volontärinnen und Volontäre hatten die letzte Nacht kaum geschlafen und noch einmal versucht, alles zu wiederholen, was sie gelernt hatten. Die Rumänisch-Prüfung stand bevor. In den sechs Wochen des Kurses hatte es manches Mal Tränen gegeben, weil so viele Aufgaben zu bewältigen waren. Obwohl von der Prüfung nichts abhing, wäre es den jungen Männern und Frauen wie ein Weltuntergang erschienen, wenn sie nicht gut bestanden hätten.
Diese Motivation hatte die Lehrerin aufgebaut, Rodica aus der Ukraine. Rodica stammt aus der rumänischen Minderheit in Czernowitz, einem kulturellen Schmelztiegel mit österreichisch-ungarischer Kulisse und rumänischer und ukrainischer Sprache. Groß, mit blondem Haar, das sie raffiniert aufgesteckt hat, schreitet sie mit ihren schicken Schuhen im Klassenzimmer auf und ab. Jeden Tag trägt sie eine andere Bluse, tief ausgeschnitten, einen kurzen engen Rock. In der ersten Stunde schon müssen die SchülerInnen rumänische Sätze nachsprechen, unsichtbar schwingt ihr Taktstock dabei mit. Manche tun sich schwer mit solchen „russischen Methoden“. In den Pausen aber ist sie locker. Sie will von jedem wissen, wer er ist, dringt in die Seelen der jungen Menschen, packt jeden Einzelnen bei seinem Ehrgeiz. Sie ist keck und frech. Die jungen Schüler lieben sie und haben es nicht ungern, wenn sie sich zu ihnen beugt, um das Geschriebene zu korrigieren.
Rodica unterrichtet nicht nur Volontäre, sie ist auch in Diplomatenkreisen bekannt als gute und strenge Lehrerin, bei der man schnell die Sprache lernt. Sie geht in den Residenzen ein und aus und sieht den Reichtum der Ausländer. Wie leicht hätte sie einem ihrer Schüler den Kopf verdrehen können, um in diese Welt zu gelangen! Doch Rodica bleibt bei ihrem Ziel. Sie will die Schülerinnen und Schüler für die Schönheit der rumänischen Sprache begeistern, für die berauschende Melodie, die prickelnde Vermischung von romanischen und slawischen Lauten und die korrekte Verwendung des Konjunktivs. Es ist nicht leicht, ihren Ansprüchen gerecht zu werden, aber dafür setzt sie gekonnt ihre Reize ein. Volontäre wie Diplomaten pauken, um sich vor der schönen Frau nicht zu blamieren.
Am Nachmittag gab Rodica die Prüfungsergebnisse bekannt: Alle hatten eine gute Note.

Eine schöne Frau lebt gefährlich. Und noch gefährlicher ihr Mann. Siehe Sarai. Vor der Begegnung mit dem Pharao warnte Abram seine Frau Sarai: „Wenn dich die Ägypter sehen, werden sie sagen: Das ist seine Frau! Und sie werden mich töten, dich aber am Leben lassen.“ Das Paar wusste um Gefahr und Chance der weiblichen Reize. Und Sarai hat sie eingesetzt. Sie konnte den Pharao gewinnen und seine Begierden positiv nützen. Der schönen Sarai gelang es, ihre Familie und ihr Volk zu schützen und aus der Unterdrückung zu befreien. Sarai hat ihre Schönheit eingesetzt, aber nicht missbraucht. Mit Hilfe seiner Frau bestand Abram die göttliche Prüfung, aus der er als gestärkter Vater des Volkes hervorging.
Schönheit gefährdet, sie macht aber auch stark. Wie unsere Rumänisch-Lehrerin. Ihre Attraktion ist zutiefst pädagogisch und dient den Schülern, ohne sie zu missbrauchen.

Wo begegnest du Schönheit, die dein Herz erfreut? Wann hat dich Schönheit weitergebracht?