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Mein innerer Lamech

Wo kein Raum für Superhelden ist.

Wird Kain siebenfach gerächt, dann Lamech siebenundsiebzigfach.
Gen 4,24

Frisch gebrühter Filterkaffee im Pappbecher stand auf dem abgenutzten Tisch. Um ihn waren am Boden fixierte Stühle angeordnet. Die Morgensonne hüllte den kleinen Straßenkiosk in charmantes Licht und kündete einen weiteren heißen Tag an. Am Nachbartisch scherzten Latinos mit dem Besitzer, der sich im schmutzigen T-Shirt über den Tresen lehnte. Farbige Cadillacs, überdimensionierte Pick-Ups und andere Benzinschlucker parkten auf der umliegenden Asphaltoase. American-Lifestyle in seiner Formvollendung. Eine perfekte Filmkulisse.
Eine junge Frau warf einen Blick auf mein T-Shirt, auf dem in großen Lettern „Homeboy Industries“ stand. Der Name des Resozialisierungszentrum für Gangmitglieder war nicht nur hier in East Los Angeles bekannt. Ihre Tattoos verrieten selbst mir Europäer, dass ihr die Gangwelt nicht fremd war. Sie sprachen Bände. Jenes von ihrem Freund wollte sie weglasern lassen und hatte dafür einen Termin bei Homeboys vereinbart. Dort entfernten täglich zwei Ärzte diese für die Ewigkeit gedachten Bekenntnisse. Nach ein paar Minuten ungezwungenen Austauschs machte ich mich auf dem Weg zu meinem Termin.
Kaum war ich zwei Häuserblöcke entfernt, blieb ein Auto mit quietschenden Reifen neben mir stehen. Ein junger Latino brüllte mich an, was mir einfiele mit seiner Freundin zu sprechen. Die saß neben ihm und hielt den wütenden Mann mit aller Kraft zurück. Völlig verdutzt stand ich da, hörte deren Wortgefecht und sah, wie das Auto wieder wegfuhr. „Was für ein Idiot“, dachte ich mir nur und ging weiter, „hoffentlich verlässt sie ihn bald“.
Eine halbe Stunde später stand ich auf der U-Bahn Haltestelle. Auf einmal tauchte der Typ wieder auf und kam schnellen Schrittes auf mich zu. „Hat der echt auf mich gelauert?“ schoss es mir durch den Kopf. „Woher kommst du?“ schnauzte er mich an. „Aus Wien, Europa. Weißt du wo das ist?“ Die Antwort verwirrte ihn sichtlich, denn – wie ich später von Kollegen erfuhr – erwartete er den Namen meiner Gang. „Hey, das ist mein Weib. Sie anzusprechen ist hier eine Beleidigung!“ „Okay, okay, das habe ich nicht gewusst.“ Wieder fuchtelte er mit den Händen, fluchte weiter und zog von dannen. Wütend stieg ich in die U-Bahn. Zunächst machte sich mein Beschützerinstinkt breit. Wie konnte er nur über seine Freundin wie von seinem Besitz sprechen? Dem müssen mal ordentlich die Leviten gelesen werden! Und schon begann sich ein imaginärer Superheldenfilm abzuspulen. Natürlich ging ich als strahlender Sieger für Recht und Gerechtigkeit heraus. Darüber konnte ich gelassen schmunzeln. Doch ein tiefsitzender Ärger ließ sich nicht verdrängen. Dabei ging es nicht mehr um die junge Frau, sondern schlicht und einfach um mein angekratztes Ego, das nach Vergeltung lechzte. Den ganzen Tag lang flammten innere Stimmen nach rächender Genugtuung auf. Vielleicht nicht ganz so unverhältnismäßig wie Lamechs Androhung der siebenundsiebzigfachen Vergeltung, aber doch überraschte mich ihre Vehemenz.

Die Worte Jesu an Petrus von der siebenundsiebzigfachen Vergebung (Mt 18,21-35) erschienen in diesem unsicheren Umfeld nur etwas für pazifistische Ideologen zu sein. Und doch wählten täglich einzelne Menschen bei Homeboy diesen Weg, um aus der Gewaltspirale auszubrechen. Einer von ihnen war Jim, ein knapp dreißigjähriges Muskelpaket mit Stimmungsschwankungen. Er kannte seinen inneren Lamech nur zu gut. Um ihm Herr zu sein, musste er tägliche Morgenübungen machen, die von ihm eiserne Disziplin verlangten. Aber so konnte er ein wahrer Held für seinen kleinen Sohn sein.