Ein Drohwort als Begleitschutz
Der HERR aber sprach zu ihm: Darum soll jeder, der Kain tötet, siebenfacher Rache verfallen.
Gen 4,15a
Wir waren eine Gruppe von sieben- bis neunjährigen Bauernbuben, abenteuerlustig, spielfreudig, streitbar. Einmal versammelten wir uns im weiträumigen Innenhof eines benachbarten Bauernhauses, um miteinander Bogenschießen zu üben. Aus grünen, biegsamen Ästen von Stauden formten wir Bögen, verbanden die Enden mit dünnen, selbstgemachten Hanfstricken und bastelten hölzerne Pfeile, an der Spitze etwas abgerundet, am Ende mit einer kleinen Kerbe versehen. Spielerisch begannen wir uns gegenseitig zu beschießen. Vor allem der größte und kräftigste unter uns – er hieß Gottlieb – diente als beliebte Zielscheibe. Er wollte sich revanchieren, und das Unglück bahnte sich an: Ein mit voller Kraft und Wut abgeschossener Pfeil Gottliebs traf einen Mitspieler mitten ins Gesicht. Mit dem Rettungswagen kam auch ein Gendarm, für uns Kinder in seiner grauen Uniform, mit Autorität ausstrahlender Kappe und umgehängter Waffe die Personifikation von Furcht und Strafe. Wie Hühner auf einer Stange mussten wir uns vor ihn hinsetzen. Dann befragte er Gottlieb. Immer und immer wieder musste dieser den Vorgang schildern, Punkt für Punkt, minutiös, wie es zu diesem Unglück und zu dieser Verletzung kommen konnte. Der Arme begann zu schwitzen und zu stottern, zum Schluss konnte er nur mehr unter Schluchzen und Weinen ein paar unverständliche Worte hervorquetschen. Endlich beendete der strenge Gendarm das Verhör. Er ließ Gnade vor Recht walten und verzichtete auf eine Anzeige. Und zu uns verschüchtert Dasitzenden sagte er beim Weggehen: „Aber wehe, wenn einer von euch Gottlieb etwas antut, den sperre ich eigenhändig in den Kotter!“ So nannte man bei uns damals das Gefängnis. Ein drohendes Wort für uns Kinder, für Gottlieb ein befreiendes.
Kain beginnt langsam das Ungeheuerliche seiner Tat und die damit verbundenen Folgen zu begreifen. Als Mörder seines Bruders hat er sein eigenes Leben verspielt. Er verliert den Boden unter den Füßen und wird zum heimatlosen Vertriebenen. Die Strafe ist hart. Kain nimmt sie an, er bereut seine böse Tat und bekennt sich schuldig. Im Innersten aufgewühlt, erfassen ihn Angst und Schrecken ob solcher Zukunft. In dieser verzweifelten seelischen Verfassung hört er ein letztes Wort Gottes. Es ist das Wort eines besorgten Vaters, gerichtet an einen schuldig gewordenen Sohn. Dem Sinn nach mag es etwa so lauten: Was geschehen ist, ist geschehen. Aber wehe dem, der dir das Gleiche antut. Der wird etwas erleben! Gott übertreibt, denn für einen Mord ist biblisch gesprochen eine siebenfache Rache unvorstellbar. Aber er wählt diese energische Ausdrucksweise, um in Kain die Gewissheit zu stärken, dass er trotz des Mordes unter seinem Schutz steht. So hört Kain ein Drohwort Gottes als Begleitschutz. Es beruhigt sein Herz, nimmt ihm die Angst und eröffnet den nächsten Schritt in eine ungewisse Zukunft. Für ihn ein Wort der Lossprechung, eine Hilfe in schwerer Schuld.