Aus welcher Familie komme ich? Was weiß ich über meinen Stammbaum?
Dem Henoch wurde Irad geboren; Irad zeugte Mehujael, Mehujael zeugte Metuschael und Metuschael zeugte Lamech.
Gen 4,18
Es ist ein beeindruckendes Buch, Saša Stanišićs „Herkunft“, eine faszinierende Erzählung und ein farbenprächtiges Gemälde über seine Herkunftsfamilien. Erzählt und gemalt voll Liebe, Ehrfurcht und Wahrhaftigkeit, jenseits von nostalgischem Kitsch, verdrängender Lüge und belehrender Moral. Biographische Erinnerung, schöpferische Phantasie und aktuelle Wahrnehmungen führen seinen Schreibstift und Malpinsel. Beispielhaft ein paar unvergessliche Szenen zu den Eltern: Ihr letzter Tanz im eigenen Garten vor dem Ausbruch des Bosnienkrieges, die bosniakisch-muslimische Mutter, eine studierte Politologin, tanzt mit dem serbischen Vater, einem ausgebildeten Betriebswirt. Als Kontrast dann ihre ärmliche Wohnung als Flüchtlinge in einem Auffanglager Deutschlands, in die Freunde einzuladen sich der junge Stanišić immer schämte. Dazu kamen belastende und kräftezehrende Arbeitsbedingungen – der Vater als Arbeiter bei der Herstellung von Rohren von BASF in der Lausnitz, die Mutter in einer Großwäscherei, wo sie tausend heiße Tode stirbt. „Mutter und Vater schufteten sich traurig“, so drückt es Stanišić aus. Die Eltern wandern nach verweigerter Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis in die USA aus und leben heute als amerikanische Rentner in Kroatien. Ein bewegtes Leben. Beeindruckend auch die Schilderung der Großmutter väterlicherseits. Wie Saša mit ihr auf der Grabplatte seiner Urgroßeltern Picknick hält. Wie sie ihm von einem Offizier aus der deutschen Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg erzählt, der sich, als er von Bauern Milch bekam, vor dem Trinken hinkniete und betete. Wie im Alter die immer stärker werdende veränderte Wahrnehmung von Raum und Zeit ihre Persönlichkeit prägte. Liebevoll und einfühlsam bringt Stanišić das zum Leuchten. Wie Eltern und Großmutter bekommt jedes Mitglied seiner Ahnenreihe ein persönliches Gesicht, geradlinig, charakterfest, originell und sympathisch.
Das gelingt Stanišić auch mit der Zeichnung seiner politischen Herkunft, in die ab und zu eigene Erlebnisse als Emigrant in Deutschland eingestreut sind. Der Einheitstraum des Vielvölkerstaates Jugoslawien, die Schwäche seiner Ideologie und die zersetzende und zerstörende Kraft des Nationalismus. Das selbstverständliche Miteinander von Kommunisten, Muslimen und Christen, ein Frieden, den Machtgier und Dummheit zerstörten. Ein wunderbares Buch, weil es Stammbaum und Herkunft als unverdiente Geschenke schildert, von denen es zu lernen gilt. Zudem ein literarischer Genuss, weil der Autor das alles in kurze, prägnante Worte fasst.
Die Bibel arbeitet komprimierter. In einem einzigen Vers wird der Stammbaum Kains vergegenwärtigt, zum Zeugnis dafür, dass Gott auch dem unsteten Mörder Nachkommen und damit Zukunft schenkt. Den Beginn machen sein Sohn Henoch und dessen Familie, die nicht mehr unstet und ruhelos flüchten müssen. Vater Kain baut ihnen einen Ort, wo sie sesshaft bleiben können. Die Stadt wird ihre Heimat, die Stadtbevölkerung ist geboren. Dass in Kains Ahnenreihe zwei Familiennamen mit Gott/El zusammengesetzt sind – Mehujael und Metuschael –, verweist darauf, dass Gott auch die vierte und fünfte Generation des gestraften Stammvaters schützt und begleitet.
Aus welcher Familie komme ich? Was weiß ich über meinen Stammbaum?