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Halbwahrheiten, Notlügen – falsch oder richtig, feig oder klug?

Wie reagiere ich in mich überfordernden Situationen?

Sag doch, du seist meine Schwester, damit es mir deinetwegen gut geht und ich um deinetwillen am Leben bleibe.
Gen 12,13

Sarah und Abraham sind als Flüchtlinge unterwegs in ein unbekanntes Land, eine fremde Kultur. Deren Wertgefüge und Normen für die Gestaltung von Beziehungen kennen sie nicht. In der Hoffnung, dass die Ägypter wie alle Hochkulturen die Familienbande hochschätzen, treffen sie die geheime Absprache, sich als Geschwister auszugeben und so füreinander ihr Leben zu schützen. In der biblischen Tradition wird diese Absprache unterschiedlich beurteilt. Zwei Beispiele aus jüdischen Kommentaren vor dem Zweiten Weltkrieg – J. H. Hertz und B. Jacob – machen das deutlich. Beide wissen, dass Sarah und Abraham zwar denselben Vater haben, aber von zwei verschiedenen Müttern abstammen, also Halbgeschwister sind. Trotzdem kommen die Verfasser zu einer unterschiedlichen Bewertung ihres Verhaltens. J. H. Hertz gesteht dem gewöhnlichen Sterblichen eine solche Reaktion in einer schwierigen Situation zu, ist aber von Abraham enttäuscht, dass dieser aus Angst mit der Wahrheit spielt, um sich das Leben zu erhalten. Das sei der Größe seiner Person und göttlichen Sendung nicht würdig. Hertz ist überzeugt, dass die Bibel diese Reaktion deswegen nicht verschweigt, weil sie die Wahrheit liebt und auch Fehler und Schwächen ihrer Führungsgestalten benennt. B. Jacob dagegen setzt bei der aus der Bibel bekannten Tatsache an, dass Sarah und Abraham Halbgeschwister sind, und verbindet sie mit der noch unbekannten Zukunft. Er interpretiert ihre geheime Absprache klug aus der biologisch vorgegebenen Beziehung und begründet sie lebensnah psychologisch. Es ist eine Art Verschwörung. Abraham schlägt Sarah vor, für die nächste Zukunft nicht mehr als Eheleute aufzutreten, sondern sich als Geschwister auszugeben und anstelle des ehelichen Verhältnisses das geschwisterliche vorzuleben. Abraham bekennt, das würde einen großen Druck von ihm nehmen und sein Herz beruhigen. Eine geheime Absprache, eine Halbwahrheit, die dem Leben dient.

Halbwahrheiten, Mehrdeutiges, Notlügen gehören zum Leben. Auf meine Frage an die zehnjährige Enkelin, ob sie schon einmal eine Notlüge ausgesprochen habe, antwortete sie: „Ja, als ich einen ‚Pups‘ gelassen habe und alle gefragt haben, ob ich das war. Da habe ich gesagt: Nein!“ Ein kluges Mädchen, das sich schützt, weil es sich schämt, etwas getan zu haben, das sich in der Öffentlichkeit nicht schickt. Einen mir gut bekannten Priester, der beruflich viel unterwegs ist und dabei seine Freundin mitnimmt, mit der er zusammenlebt, habe ich gefragt, wie er das bei Vorstellungsrunden handhabe. Seine Antwort: „Das hängt von der Situation ab – als Sekretärin, als Mitarbeiterin, als gute Freundin…“ Ein kluger Mann, der nicht lügt. Lebensferne Wahrheitsfanatiker werden mit dem biblischen Satz und mit einem solchen Verhalten allerdings Probleme haben.

Die Frage bleibt: Halbwahrheiten, Notlügen: Sind sie falsch oder richtig, feig oder klug? Wie reagiere ich in mich überfordernden Situationen?