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Eine gewohnte Reaktion

Prinzessinnen gehen mit aufrechtem Blick durch die Welt.

„Der Herr sprach zu Kain: Warum überläuft es dich heiß und warum senkt sich dein Blick?“
Gen 4,6

Jemen, 2014 kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs, ist ein Land von bitterer Armut gezeichnet. Mitten in einem verfallenen Operationsraum behandeln deutsche Ärzte ihre Patienten. Von weither schleppen sich die Bewohner mit ihren Wunden zu den ausländischen Helfern. Unter ihnen ist Albrecht, ein junger plastischer Chirurg der Münchner Städtischen Kliniken. Verbrennungen sind sein Fachgebiet. Er ist das erste Mal mit der Ärzteorganisation „Hammer-Forum“ unterwegs. Sie koordinieren zweiwöchige Einsätze wie diesen im Jemen. Kurze Zeitintervalle, die gut in die Urlaubszeit integriert werden können. Vor Ort rauben Stromausfälle kostbare Zeit. Die Ärzte müssen harte Entscheidungen treffen, wer behandelt und wer wieder nach Hause geschickt wird. Belques sitzt mit ihren fünf Jahren schüchtern zwischen den Wartenden. Ihr Kopf ist gesenkt. Verbrennungen vom Kinn bis zum Brustbein ziehen ihr Gesicht nach unten. Über die Jahre würde ihr Kiefer derart versteifen, dass eine Nahrungsaufnahme nur mehr schwer möglich wäre. Doch für eine Operation mit ihren notwendigen Nachbehandlungen reicht die Zeit nicht aus. Der Spezialist will das kleine Mädchen nicht einfach nach Hause schicken.
Mit jugendlichem Eifer wirbt er bei deutschen Hilfsorganisationen für sie, ruft Freunde zu Spenden auf und kann das heimatliche Klinikum für eine Operation gewinnen. Sogar eine deutsche Familie wird gefunden, die bereit ist, sich während der Behandlungszeit um Belques zu kümmern, zusätzlich zu ihrem eigenen, pflegebedürftigen Kind. Die Eltern des Mädchens stimmen zu und eine kleine Odyssee beginnt. Mit sechs Jahren liegt sie das erste Mal auf dem Münchner OP-Tisch. Während die vorbereitende Operation gut verlauft, endet der eigentliche Gewebetransfer katastrophal. Ihr Zustand wird schlechter als zuvor. Ihre Rückkehr muss verschoben werden. Zweifel machen sich bei Albrecht breit. Hatte er sich überschätzt? War es gut, das Kind von seiner Familie so lange zu trennen. Nachoperationen folgen. Gott sei Dank mit Erfolg. Nach knapp einem Jahr kann die Heilungstherapie beginnen. Belques muss lernen, ihren Hals zu strecken. Ihre Gasteltern pflegen mit viel Geschick und Liebe die Wunden des Kindes. Albrecht versucht seine kleine Patientin aufzumuntern, doch ihr Blick bleibt gesenkt. Sie ist es so gewohnt und kann die äußeren Veränderungen noch nicht annehmen. Eines Tages fragt sie der Chirurg nach der Bedeutung ihres Namens. „Belques heißt Prinzessin.“ „Ja, und wie schaut eine echte Prinzessin?“ Da streckt sie ihr Kinn noch oben und blickt den jungen Arzt an. „Und genauso gehst du nun weiter, aufrecht wie eine Prinzessin.“

Narben einer Verbrennung hatten Belques Blick für Jahre nach unten gezogen. Kain verbrannte sich am Neid. Wie konnte Gott nur Abels Opfer annehmen und meines ausschlagen? Wie erschreckend menschlich ist seine Enttäuschung. Eine gewohnte Reaktion. In seiner Kränkung merkte Kain gar nicht, dass Gott sich ihm zuwendete und ihn ansprach. Dabei bewirkte kaum eine Opfergabe eine solch fürsorgliche Annahme.

Jemen, heute nach knapp sechs Jahren Bürgerkrieg. Über 3,2 Millionen Menschen leiden an Unterernährung. Vereinzelte Bilder von ausgemergelten Körpern schaffen es nur selten in die Medien. Kein Auge blickt prinzessinnenhaft. Scham glüht innerlich auf, der Blick senkt sich, eine gewohnte Reaktion des Betrachters.