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Die Verlockung, Neues zu gründen

Wann kommt die Zeit, an der ich Vertrautes verlassen kann? Wann muss ich weiterziehen?

Dann zog Abram immer weiter, dem Negeb zu.
Gen 12,9

Lachen drang in mein Zimmer, wenn die Kinder morgens in die Kapelle schwärmten. Manchmal war auch ein Schimpfen zu hören, wenn die Erzieherin die verschlafenen Jugendlichen zur Pünktlichkeit ermahnte. Costel, mein besonderer Schützling, wartete vor meiner Türe, und wir gingen gemeinsam zum Morgengebet. So begann der Alltag auf der „Farm für Kinder“. Ein ambitioniertes Team kümmerte sich um über hundert Kinder. Die Großen arbeiteten in den Lehrwerkstätten. Im Dorf hatten die Kinder viele Freunde. Abends saßen die Volontäre aus verschiedenen Ländern im Mitarbeiterzimmer und ließen den Tag ausklingen. Manchmal dauerten die Gespräche bis in die Morgenstunden, wenn schon von der Bäckerei der Duft des frischen Brotes herbeiwehte. Dann genossen wir das warme Brot mit Butter zu den letzten Schlucken Whisky.
Einmal in der Woche musste ich nach Bukarest fahren, um administrative Angelegenheiten zu erledigen. Nach einem anstrengenden Tag in der Stadt war ich immer froh, wenn ich wieder zu meinen Kindern kam und am Abend mit ihnen noch über die Felder laufen konnte. So hätte es ewig weitergehen können. Doch in Bukarest war Feuer am Dach.
Wir hatten das neue „Sozialzentrum Lazarus“ eröffnet, in dem Kinder und Jugendliche von der Straße Aufnahme finden sollten. Vom Staat hatten wir eine alte Schule bekommen, die wir renoviert hatten. Aus den Klassenzimmern waren Schlafräume geworden. Die ärgsten Rabauken vom Bahnhof stürmten das Haus. Drogen und Gewalt brachten das neue Projekt zum Wanken. Die Pädagogen verschanzten sich im Büro, Mitarbeiter kündigten. Da blieb nur noch eine Möglichkeit: Ich musste selbst dorthin ziehen. Es fiel mir schwer, meine Sachen zu packen und aus der Idylle auf dem Land in das chaotische Zentrum zu übersiedeln. Gleichzeitig war es aber auch eine Verlockung, eine neue Gemeinschaft zu gründen mit den Jugendlichen, die aus allen Institutionen geflogen waren. Costel und ein mutiger Volontär zogen mit mir ein. Die Straßenkinder empfahlen mir Nea Ion als Beschützer. Erst später erlebte ich, dass sie ihn nicht nur bewunderten, sondern vor allem Angst vor ihm hatten.
Wahre Sicherheit gab uns etwas anderes. Wir begannen mit einem Morgengebet, am Anfang zu dritt, doch dann strömten die wildesten Gestalten in den Gebetsraum. Wir mussten das größte Zimmer für die Kapelle opfern. Unsichtbar floss aus dieser Gebetszeit Frieden in die Stunden des Tages und in die Herzen der Verzweifelten. Immer mehr gute Helfer kamen ins Haus, und viele Volontäre wollten bei uns mitleben. Meine Kinder von der Farm kamen zu Besuch. Eine neue Hausgemeinschaft war entstanden. Ich konnte und kann mir keine besseren Freunde und kein schöneres Leben ausmalen, als ich es im Haus Lazarus hatte. Doch es kam der Tag, da ich weiterziehen musste, in ein leeres Haus in einem anderen Land.

Im Rückblick auf die Anfänge in der Sozialarbeit fand ich die Liebe zu Abram, der immer weiterzog, mit einem Ziel: der Negev-Wüste im Süden zu. Bei mir waren die nächsten Etappen die Bahnhofskinder, dann die Waisenkinder in Moldawien; heute sind es die Roma-Kinder in Transsilvanien. Wenn ein Haus steht und warm ist, können wir weiterziehen, solange Aufgaben auf uns warten.

Wann kommt die Zeit, an der ich Vertrautes verlassen kann? Wann muss ich weiterziehen?