Ein Blick hinter die Tattoos.
„Gott, der HERR, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu.“
Gen 2,22
1986 übernahm Gregory Boyle die Pfarre „Dolores Mission Church“, mitten in der ärmsten Gegend von Los Angeles. Straßenschlachten zwischen Gangs gehörten zum Alltag. Allein 1992 forderten sie 1000 Tote. Mit harten Strafen versuchte die Stadt, Herr der Lage zu werden. Die Gefängnisse platzten aus den Nähten. Die Maßnahmen zeigten keine Wirkung. Noch heute liegt die Rückfallrate in den USA bei 70 Prozent. Viele Menschen sind von Gewalt, Drogen und Hoffnungslosigkeit gezeichnet. Kaum ein Jugendlicher erwartet, seinen 25. Geburtstag zu erleben. Mit unzähligen Tattoos verdecken sie sich selbst. Symbole der verschiedenen Gangs markieren ihre Zugehörigkeit. Aber letztlich bieten diese kein Gegenüber, das sie aus dem Teufelskreis holen könnte. Die Gesellschaft ist überfordert und versucht sich abzugrenzen.
Greg ist überzeugt, dass hinter all der Gewalt tief verletzte, gute Seelen um Heilung schreien. Die Worte des Jesuiten mögen in einer Moralvorlesung naiv klingen. Doch er lebt sie seit 30 Jahren auf der Straße. 1988 gründete er „Homeboy Industries“ (https://homeboyindustries.org/) und schuf damit einen Zufluchtsort, wo jedes Gangmitglied bedingungslos willkommen geheißen wurde. Durch Arbeit, Ausbildungsplätze und Anti-Drogenprogramme eröffnete er neue Perspektiven. Vor allem aber begegnete er den Dieben, Mördern, Prostituierten und Drogenabhängigen auf Augenhöhe. Er sah ihre Last und staunte, dass sie überhaupt noch einen Funken an Lebenswillen haben konnten. Ihre Realitäten durchbrachen immer wieder aufs Neue seine Vorbehalte. Sein Verständnis und Mitgefühl für sie machten ihn zum Lernenden. Er glaubt an sie so lange, bis die Verirrten beginnen, an sich selbst zu glauben.
Gott glaubt an den Menschen. Er vertraut ihm seine Schöpfung an. Um sie in seinem Sinne zu umsorgen, muss der Mensch an sich glauben. Ansonsten besteht die Gefahr, dass er verwildern könnte, wenn er aus Angst nur um sich selbst kreist. Zur befreienden Selbsterkenntnis führt die Begegnung mit einem anderen Menschen. Deswegen ist es nicht gut, dass der Mensch allein ist. Als Bild für das Gemeinsame nimmt Gott die Rippe; er schafft aus ihr etwas Neues und bringt mit der Bezeichnung „Frau“ eine Differenzierung in den Menschen, der nun im Anschluss „Mann“ genannt wird (V.23). Diese Spannung von Gemeinsamem und Unterschiedlichem findet sich in den verwendeten hebräischen Wörtern für Mann (ʾiš) und Frau (ʾišša) wieder. Gott führt die Frau dem Menschen zu. Sie ist nicht dessen Besitz, sondern ein ihm ebenbürtiges Geschenk, das er nicht vereinnahmen darf. Er muss sich öffnen, um ihr zu begegnen. Eine solche Bewegung ist immer riskant und verlangt gesundes Selbstvertrauen.
Allein 2018 hat Homeboy Industries mehr als 12.000 Menschen bei der Reifung ihres Selbstvertrauens begleitet. Es zählt inzwischen zu den weltweit größten Reintegrationsprogrammen für Gangmitglieder. Die Rückfallrate liegt bei 30 Prozent. Täglich sind zwei Ärzte im Einsatz, um Tattoos wegzulasern. Menschen wie Johnny, Delia oder Valentino brauchen diese Kennzeichnungen nicht mehr. Sie haben begonnen, an sich zu glauben und ihr Leben kreativ für sich und andere zu gestalten.