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Das höchste Gut

„Wer ein Menschenleben zerstört, zerstört die ganze Welt.“ (Talmud)

Wenn aber euer Blut vergossen wird, fordere ich Rechenschaft für jedes euer Leben. Von jedem Tier fordere ich Rechenschaft und vom Menschen.
Gen 9,5a-b

Im großen jüdischen Kommentar zur Bibel, in dem das aus in Jahrhunderten Gelernte zusammengetragen wurde – deswegen Talmud, das Gelernte genannt –, stehen zwei kurze Texte, die ein Licht auf den engen Zusammenhang von Blut und Leben werfen. Der eine setzt bei der Einzigartigkeit jedes Menschen an. Gottes Schöpfungswerk am Menschen wird mit der Arbeit eines Münzprägers verglichen. Jeder Mensch ist in den Augen Gottes eine kostbare Münze, geschaffen aus dem Element der Erde, ein „Erdling“ also, in den hinein der Schöpfer seinen Leben schaffenden Geist haucht, in den er sein Bild eindrückt. Jeder wird auf diese Weise ein Abbild Gottes, eine Ikone, einzigartig, unvergleichlich, wertvoll, ein Kunstwerk. Daraus folgert der talmudische Text: „Der Mensch wurde deswegen als Einzelwesen erschaffen, um dich zu lehren, dass, wenn jemand eine israelitische Seele vernichtet, es ihm die Schrift anrechnet, als hätte er eine ganze Welt vernichtet. Und wenn jemand eine israelitische Seele erhält, es ihm die Schrift anrechnet, als hätte er eine ganze Welt erhalten.“ (Sanhedrin 37a). Wenn dabei von der israelitischen Seele gesprochen wird, ist damit im Sinne der Bibel jedes Menschenleben gemeint. Eindrucksvoll und beschwörend wird damit auf die Folgen Leben zerstörenden und vernichtenden Handelns hingewiesen. Und das gilt nicht nur für die grausamen Schlächter der Weltgeschichte, sondern auch für das jeweilige persönliche böse Verhalten.
Der andere Text aus dem Talmud setzt bei der biblischen Sicht des Blutes an. Blut wird darin mit dem Leben identifiziert. Es ist eine von Gott jedem Geschöpf geschenkte Kraft, die das Leben am Fließen hält. „So kam einst jemand vor Raba – einen berühmten rabbinischen Gelehrten – und erzählte ihm: Der Befehlshaber meines Wohnortes befahl mir, jenen zu töten, sonst tötet er mich. Der Rabbi erwiderte: Mag er dich töten, du aber begehe keinen Mord; wieso glaubst du, dass dein Blut röter ist, vielleicht ist das Blut jenes Mannes röter.“ (Joma 82b). Das Blut der Elenden, Geringen und Armen ist in den Augen Gottes ebenso kostbar wie das der Adeligen, Geehrten und Reichen. Weder deutsches, „azurblaues“ noch arisches Blut sind entscheidend, sondern das im Blut pulsierende Leben aller Geschöpfe ist in den Augen Gottes das höchste Gut.

Deswegen schützt der Gott der Bibel das Leben, derart, dass er alle, die das Blut anderer vergießen, zur Verantwortung zieht, selbst die Tiere. Wenn ein Ochse sein Horn nicht zur Abwehr von Feinden, sondern als Waffe gegen Menschen einsetzt und tötet, wenn ein Tier seine Zähne nicht zum Fressen von Nahrung, sondern zum Beißen und Verletzen von Menschen gebraucht, dann werden sie zur Rechenschaft gezogen, abgesondert und gesteinigt. Und auch der Besitzer, der um den aggressiven Charakter seines Tieres weiß und es nicht von seinem Tun abhält, wird in die Verantwortung genommen und vor Gericht gestellt. Gott rächt jedes unschuldig vergossene Blut, weil er die Gewalttat hasst und ihm die Mörder ein Gräuel sind. Denn sie sind ein Angriff auf den Schöpfer allen Lebens.
„Wer ein Menschenleben zerstört, zerstört die ganze Welt.“