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Aufatmen

Reinigungsprozesse sind schmerzhaft, aber sie sind zeitlich begrenzt

Die Quellen der Urflut und die Schleusen des Himmels wurden geschlossen; der Regen hörte auf, vom Himmel zu fallen.
Gen 8,2

Unter den großen Gestalten der jüdischen Bewegung des Chassidismus, die keineswegs Sonderlinge oder geistig verwirrte Seelenführer waren, sticht der sympathische Rabbi Sussja von  Hanipol mit einer speziellen Begabung besonders heraus. Er war gesegnet mit der Fähigkeit, das Böse an den Menschen zu sehen, dies aber nicht zu beklagen und zu bejammern, sondern als eigenes Tun zu interpretieren und so die Welt vom Bösen zu reinigen. Martin Buber schildert in seinen Chassidischen Erzählungen eine kleine Szene, die dies illustriert. In einem Gasthaus, in dem Rabbi Sussja übernachtete, konnte er vom Gesicht des Wirtes eine Fülle von dessen biographischen Irrwegen und Sünden ablesen. Als der Rabbi dann laut in seinem Zimmer Psalmen betete, streute er als Selbstanklage Worte ein wie „Ach, Sussja , du Törichter und Verwirrter, wie oft hast du gelogen und Böses getan…“, verbunden mit genauen Zeit- und Ortsangaben. Der an der Tür lauschende Wirt war bestürzt, erschrak und erwachte zu Reue und Umkehr.

Vor dem Hintergrund dieser reinigenden Wahrheit erschließt sich auch jene Szene, die die schwierige Ehe des Rabbi vergegenwärtigt. Martin Buber erzählt es so: „Sussjas Frau war ein zänkisches Weib und lag ihm beständig in den Ohren, er solle sich von ihr scheiden lassen, und sein Herz war schwer von ihrer Rede. Eines Nachts rief er sie an und sprach zu ihr: ,Sieh her!` Und er zeigte ihr, dass sein Kissen ganz feucht war. Dann sprach er weiter zu ihr: ,Es steht geschrieben in der Gemara: Wer sein erstes Weib vertreibt, der Altar (gemeint ist Gott) selber vergießt Tränen über ihn. Von diesen Tränen ist das Kissen durchnässt. Und nun, was willst du noch? Willst du noch den Scheidebrief?`Von diesem Augenblick an wurde sie still. Und als sie still geworden war, wurde sie froh. Und als sie froh geworden war, wurde sie gut.“ Ein Beispiel dafür, wie ein schmerzhafter Prozess der Reinigung, oft auch mit Tränen verbunden, einen neuen Lebensraum eröffnet.

Es ist tröstlich in der biblischen Erzählung von der Flutung der Erde, in der das Böse auf der Welt entmachtet, ungeordnete Beziehungen geklärt und das menschliche Sprechen von allem Lügenhaften gereinigt werden, dass dieser Prozess der Katharsis nicht unendlich weitergeht, sondern beendet wird. Die Quellen für den über die Maßen ansteigenden Grundwasserspiegel werden überraschend verstopft, und der aus den Schleusen des Himmels unaufhörlich fließende Regen verebbt plötzlich. Von unten und von oben hören die reinigenden Wasser auf zu fließen. Es kehrt Ruhe ein, Zeit zum Atemholen. Ein schönes biblisches Bild dafür, dass sowohl der zwischenmenschliche Reinigungsprozess mit all seinen Belastungen, Schmerzen und Trennungen wie auch der vom Himmel kommende mit all seinem Überraschenden, Herausfordernden und Ungewissen zu einem ersehnten Ende kommen. Boden und Luft sind wieder sauber, so wie sie der Schöpfer geschaffen und für den Menschen als paradiesischen Lebensraum gedacht hat.

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