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Als wir müde wurden, brach der Junge auf

Das Bittere enthält Kräfte, heilende und überraschende.

Gegen Abend kam die Taube zu ihm zurück und siehe: in ihrem Schnabel hatte sie einen frischen Ölzweig. Da wusste Noach, dass das Wasser auf der Erde abgenommen hatte.
Gen 8,11

Es war die letzte Chance für Andrei. Wir hatten eine neue Wohngemeinschaft ins Leben gerufen und wollten den zukünftigen Bewohnern ein Sprungbrett in die Eigenständigkeit mit möglichst viel Freiheit ermöglichen. Ein paar Bedingungen gab es dennoch: Schule, Studium oder Arbeit. Ein Pädagoge kam wöchentlich zu den Jugendlichen, er beriet sie, half bei bürokratischen Hürden und prüfte auch die Erfolge. Die Studienanfänger waren sehr froh über die Begleitung, die Arbeitenden suchten Trost, wenn der Boss sie schlecht behandelte. Die jungen Leute wuchsen zusammen und wurden Freunde. Hier sollte Andrei seinen Platz finden, damit er endlich die letzte Mathematikprüfung ablegte, um sein Maturazeugnis zu bekommen. Ich hoffte, dass die Mitbewohner ihn dazu motivieren würden. Es war unbegreiflich, wie ein hochbegabter Bursche seine Zukunft wegen einer einzigen Prüfung so sehr aufs Spiel setzen konnte. Ein Leben lang in Kinderheimen – mit Fürsorge, aber auch strengen Regeln –, davon hatte er mehr als genug. Er wehrte sich gegen alle und alles. Alkohol, Drogen, nächtelang unterwegs sein, darin glaubte er sein Glück zu finden. Auch Musik faszinierte ihn, und so lernte er spielend leicht Gitarre. Mit Freunden gründete er eine Band, sie hatten einige Auftritte. Doch das endete bald. Wir taten alles, um ihn zum Lernen zu bringen und zur Prüfung anzumelden. Wenn er eine Übungsstunde mitmachte, war es umwerfend zu sehen, wie leicht ihm die Lösungen fielen. Aber dann drehte er wieder ab, war verschlossen, verschlief den Unterricht. Jeder Versuch einer Zuwendung ging Andrei auf die Nerven. Er wollte keine Einschränkungen, schimpfte gegen Gott und die Welt, Politik und Systeme, gegen alles. Manchmal konnten wir diskutieren, und ich verstand seinen Protest. Er wollte ausziehen, und zwar nach nirgendwohin. Das war hart.
Da boten uns Freunde an, dass wir drei Praktikanten für ein Jahr in ein Jugendhaus nach München schicken könnten. Sie würden Unterkunft, Essen und Deutschunterricht bekommen, gefragt sei Mithilfe in Haus und Hof. Wir suchten Kandidaten. Andrei zu fragen, wagte ich nicht, der war schon zu weit abgesunken. Doch er bewarb sich. Er müsse raus aus dem „Gefängnis“ und brauche endlich seine Freiheit. Aber – ohne Matura?, fragte ich. Er brauche das nicht, war er sich sicher.

„Gegen Abend kam die Taube.“ Als wir nach so vielen Versuchen, Andrei zu retten, müde wurden, erst da spürte ich seine Kräfte; bis dahin hatten sie sich bloß in Widerspenstigkeit und Sucht ausgetobt. Die Enttäuschungen waren bitter, vor allem in dem Augenblick, da er alles hinwarf. Doch in seinem Abschied erkannte ich seine Stärke. Wie der frische Ölzweig – er ist bitter -, den die Taube am Abend zu Noah in die Arche brachte, war für uns der Aufbruch des Jungen: unter Protest, aber endlich ein neuer Schritt.
Als Andrei die Prüfung bestand und dann sogar einen Studienplatz für Medizin erhielt, verstand ich das rabbinische Wort: „Besser ist bittere Frucht, die von Gott kommt, als die süßeste Speise aus den Händen des Menschen.“

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